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Volksinitiative

Die Volksinitiative ist eines der Volksrechte, die den Kern der direkten Demokratie bilden. Mit ihr kann eine bestimmte Anzahl von Stimmberechtigten (Stimm- und Wahlrecht) eine Entscheidung aller Stimmberechtigten über einen Vorschlag herbeiführen. Falls ihn diese annehmen, erhält er Rechtskraft. In einem weiteren Sinn wird auch der Inhalt eines solchen Begehrens Initiative genannt (z.B. Kriseninitiative, Alpeninitiative). Wie beim Referendum handelt es sich bei der Volksinitiative primär um ein Misstrauens- oder Oppositionsinstrument gegenüber Behörden und politischer Mehrheit. Während aber Ersteres die Erhaltung des Status quo bezweckt, strebt Letzteres eine Veränderung an. Die Volksinitiative kann auf der Verfassungs- oder der Gesetzesebene wirken oder andere Befugnisse gewählter Behörden betreffen.

Verfassungsgeschichtlich geht die Volksinitiative auf die französische Montagnard-Verfassung von 1793 zurück. Den Weg in der Schweiz ebneten die Massenpetitionen (Petitionsrecht), die während des Auftakts zur Regeneration eine zentrale Rolle spielten. In den Kantonsverfassungen von Aargau, Basel-Landschaft, Thurgau, Schaffhausen, Luzern und St. Gallen tauchte die Volksinitiative 1831-1838 in einer Form auf, die auf eine umfassende Revision der jeweiligen Verfassung zielte. Als Begehren von 50'000 Stimmberechtigten für eine Totalrevision fand sie Eingang in die Bundesverfassung (BV) 1848 (Artikel 113), die überdies die Möglichkeit der kantonalen Verfassungsrevisionen zur Voraussetzung für die Gewährleistung der kantonalen Verfassungen erhob (Artikel 6). Auf Bundesebene genügt das Volksmehr (d.h. die Mehrheit der Abstimmenden) zur Annahme; in diesem Falle muss eine Neuwahl des Parlamentes erfolgen. Zur Anwendung gelangte die Volksinitiative für eine Totalrevision selten. Zwei Anläufe scheiterten 1851 und 1865-1866 schon in der Phase der Unterschriftensammlung. Eine rechtlich nicht vorgesehene Volksinitiative für ein Banknotenmonopol wurde 1880 eingereicht. Vom Parlament als Begehren für eine Totalrevision interpretiert, erlitt sie im gleichen Jahr in der Volksabstimmung Schiffbruch. Die einzige formal korrekte Volksinitiative für eine Totalrevision der BV reichten 1934 rechtsextreme Kreise ein, nicht zuletzt, um Neuwahlen zu erzwingen. Sie unterlagen aber 1935 deutlich. Ein letzter Anlauf (Initiative Frühling) scheiterte 2003 im Sammelstadium.

Wenn auch die kantonalen Verfassungstexte nicht klar zwischen Teil- und Totalrevision unterschieden, meinten sie anfänglich doch Letztere. Die Verfassung des Kantons Waadt von 1845 steckte für die Volksinitiative als erste explizit einen weiten Rahmen («toute proposition») ab. Von den 1860er Jahren an verbreiteten sich rasch die Möglichkeit zur Teilrevision und vor allem die Gesetzesinitiative (1852 Aargau, 1863 Basel-Landschaft, 1869 Zürich, Thurgau und Solothurn), beides Postulate der Demokratischen Bewegung; bis 1921 (Freiburg) kannten sie alle Kantone. Auch Städte und grössere Gemeinden führten die Volksinitiative ein (Bern 1887, Zürich 1891). Über Verfassung und Gesetz hinaus dehnten Kantone und Gemeinden das Initiativrecht auf weitere Bereiche aus, zum Beispiel auf Ein- oder Abberufung einer Behörde (Abwahlrecht) und auf Verwaltungsangelegenheiten.

Auf Bundesebene erwies sich der Widerstand zunächst als hartnäckiger als auf kantonaler Ebene. Zwar enthielt der 1872 abgelehnte Verfassungsvorschlag sogar die Gesetzesinitiative; die BV 1874 ging in diesem Punkt dann aber nicht über jene von 1848 hinaus. Die Volksinitiative zur Teilrevision wurde jedoch immer wieder gefordert und sogar ohne rechtliche Grundlage angewendet wie 1878-1880 in den Kampagnen zur Wiedereinführung der Todesstrafe und für das Banknotenmonopol. Den Durchbruch brachte eine Motion, die Josef Zemp und andere katholisch-konservative Politiker 1884 eingereicht hatten. Sie führte 1891 zur Verabschiedung von Artikel 121 der BV 1874, der die Volksinitiative zur Teilrevision in Form einer allgemeinen Anregung (nur Volksmehr nötig) oder eines ausgearbeiteten Entwurfs (Volks- und Ständemehr nötig) vorsah. Mehrere Anläufe zur Gesetzesinitiative auf Bundesebene scheiterten (Standesinitiativen 1904, Motionen 1918 und 1930, Volksinitiative 1958, parlamentarische Initiative 1986) dagegen. Erst 2003 fand die allgemeine Volksinitiative (Artikel 139a BV 1999) Zustimmung, die in Form einer allgemeinen Anregung die Annahme, Änderung oder Aufhebung von Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen verlangen kann. Sie wurde bereits 2009 wieder abgeschafft.

Waadtländer Landwirte bekämpften die «Volksinitiative für preisgünstige Nahrungsmittel und ökologische Bauernhöfe», die am 27. September 1998 zur Abstimmung kam (Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann).
Waadtländer Landwirte bekämpften die «Volksinitiative für preisgünstige Nahrungsmittel und ökologische Bauernhöfe», die am 27. September 1998 zur Abstimmung kam (Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann). […]

Eine Volksinitiative erforderte 50'000 Unterschriften, was 1891 7,6%, 1976 – unter anderem wegen der inzwischen erfolgten Einführung des Frauenstimmrechts – nur mehr 1,3% der Stimmberechtigten entsprach. Nach der Verdoppelung auf 100'000 Unterschriften waren 1977 ein Anteil von 2,6%, 2000 noch einer von 2,1% nötig. Die Verbreitung der brieflichen Stimmabgabe in den 1990er Jahren erschwerte das Zustandekommen von Volksinitiativen, weil mit der während Jahrzehnten üblichen Unterschriftensammlung vor den Stimmlokalen immer weniger Stimmberechtigte erreicht werden. Das Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) von 1976 begrenzte die zuvor nicht geregelte Sammelfrist auf 18 Monate. Gemäss dem Bundesgesetz betreffend das Verfahren bei Volksbegehren von 1892 belief sich die Behandlungsfrist für das Parlament auf ein Jahr; sie wurde nach jahrzehntelanger Überschreitung zuerst 1950 auf zwei Jahre für allgemeine Anregungen sowie drei Jahre für ausgearbeitete Entwürfe und dann durch das BPR 1976 auf drei bzw. vier Jahre verlängert. Nach Revisionen 1996 und 1999 beträgt die Behandlungsfrist zwei bzw. zweieinhalb Jahre.

Eine Volksinitiative durchläuft mehrere Phasen. Zuerst formuliert ein Komitee (Verband, Partei oder ad hoc gegründetes Komitee) den Text. Diesen muss die Bundeskanzlei seit Inkrafttreten des BPR prüfen. Entsprechen Unterschriftenliste und Titel den gesetzlichen Anforderungen, so werden die Volksinitiative und die Namen der Urheber im «Bundesblatt» veröffentlicht und die Unterschriftensammlung kann beginnen. Nach deren Abschluss werden die von den Gemeinden kontrollierten Unterschriftenbogen der Bundeskanzlei übergeben, die formell das Zustandekommen feststellt. Es folgt die Behandlung durch Bundesrat und Parlament. Letzteres überprüft, ob die Volksinitiative die verfassungsmässigen Erfordernisse, d.h. die Einheit der Form, die Einheit der Materie oder zwingende Bestimmungen des Völkerrechts (Artikel 139 BV 1999) nicht verletzt. Ausnahmsweise erklärt es eine Volksinitiative für ungültig, wie 1955 die pazifistische Volksinitiative Samuel Chevalliers, 1977 die Teuerungs-Volksinitiative der PdA, 1995 die Militärausgaben-Volksinitiative der SPS und 1996 die Asylpolitik-Volksinitiative der NA bzw. SD. In der Regel werden während der parlamentarischen Phase mit den Initianten Kompromisse in Form eines direkten oder indirekten Gegenvorschlages ausgehandelt. Diese Praxis setzte sich allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Befriedigt das Ergebnis die Initianten, können sie ihr Begehren zurückziehen. Erstmals taten sie dies 1908 (Gesetzgebung über die Ausnützung der Wasserkräfte); eine rechtliche Grundlage für diese Praxis besteht aber erst seit 1950. Das BPR von 1976 schrieb schliesslich vor, dass jeder Sammelbogen eine Klausel enthält, in der sich die Initianten einen eventuellen Rückzug vorbehalten. Falls ein Rückzug unterbleibt oder die ausgehandelte Alternative auf Verfassungsebene steht, folgt der Urnengang. Lange fehlte die Möglichkeit zur echten Eventualabstimmung zwischen Initiativbegehren und Gegenvorschlag; eine solche wurde erst 1987 eingeführt (doppeltes Ja). Zuvor war nur ein doppeltes Nein möglich, sodass Reformwillige nur eine der beiden Vorlagen unterstützen, Anhänger des Status quo aber beide ablehnen konnten. So sprachen sich 1974 nur zwei Fünftel der Stimmenden gegen eine sozialere Gestaltung der Krankenversicherung aus, obsiegten wegen der Aufsplitterung der Befürworter auf Volksinitiative und Gegenvorschlag aber dennoch.

Bereits 14 Monate nach Inkrafttreten des neuen Verfassungsartikels wurde als erste Volksinitiative die für ein Schächtverbot eingereicht. Getragen von tierschützerischen und antisemitischen Motiven fand das Begehren im August 1893, noch vor dem Zustandekommen des zweiten, Zustimmung. Trotz dieses aus institutioneller Sicht erfolgreichen Auftakts blieb die Volksinitiative fast vierzig Jahre lang ein nur selten genutztes Instrument. Dies änderte sich erstmals in der Weltwirtschaftskrise. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren ging die Anwendung zurück, stieg dann in den 1950er Jahren vor allem wegen der finanz-, sozial- und militärpolitischen Auseinandersetzungen erneut stark, um im ersten Jahrzehnt der Zauberformel abermals abzunehmen. Seit den 1970er Jahren erreichte die Volksinitiative infolge der zunehmenden Kritik an der Konkordanzdemokratie von links und rechts eine bisher nicht annähernd gekannte Verbreitung. Fast zwei Drittel aller Begehren wurden 1971-2010 eingereicht, knapp ein Fünftel allein 1991-2000.

Volksinitiativen 1891-2010

Zeitraumzustande gekommenangenommenabgelehntzurückgezogen
1891-19005140
1901-19104121
1911-19208210
1921-193082111
1931-194021065
1941-195011168
1951-1960230912
1961-197016078
1971-19804002211
1981-19904532614
1991-2000572329
2001-20104263012
Total2801815681
Volksinitiativen 1891-2010 -  Klöti, Ulrich et al. (Hg.): Handbuch der Schweizer Politik, 1999, S. 588; Bundeskanzlei

Die Stimmberechtigten haben bis anhin knapp 90% der ihnen vorgelegten Begehren abgelehnt. Drei der angenommenen Volksinitiativen – die Proporzwahl des Nationalrats, das Staatsvertragsreferendum sowie die Rückkehr zur direkten Demokratie – waren für die Entwicklung des politischen Systems entscheidend. Auch abgelehnte oder zurückgezogene Volksinitiativen zeitigten Wirkung, indem sie die Behörden zum Handeln in der Form direkter oder indirekter Gegenvorschläge veranlassten. Weil aber Volksinitiativen oft aktuelle Probleme aufgreifen, stellt sich die Frage, ob entsprechende Reformen nicht ohnehin erfolgt wären. Nutzen und Schaden der Volksinitiative wie des Referendums sind dauernd Themen der öffentlichen Diskussion. Als positive Wirkungen gelten dabei das Wecken des Problembewusstseins in der Öffentlichkeit, das Öffnen des politischen Systems für Forderungen, die Behörden, Parteien und Verbände sonst herausgefiltert hätten, sowie der Zwang für diese Institutionen, ihre Prioritäten zu ändern. Ausserdem wird auf die höhere Legitimität von Staatshandlungen und das gesteigerte subjektive Wohlbefinden der Stimmberechtigten verwiesen. Kritiker dagegen befürchten eine Instrumentalisierung des Souveräns durch Demagogen und den übermässigen Einfluss kleiner, gut organisierter Gruppen. Ob die Volksinitiative tatsächlich eine raschere Reaktion auf neue Problemlagen erlaubt oder ob sie die Behörden nicht durch ihre übermässige Anwendung von der Ausarbeitung langfristiger Reformen abhält, ist ebenfalls umstritten. In diesem Zusammenhang wird auch der starke politische Druck angeführt, der auf den Verfechtern neuer Ideen lastet. Dieser zwingt sie, ihre Anliegen möglichst rasch in die Form einer Volksinitiative zu giessen, d.h. auch, sie auf wenige Zeilen zu reduzieren, die breite Diskussion nach statt vor der endgültigen Formulierung zu führen und beträchtliche Mittel für Unterschriftensammlungen und Werbekampagnen zu verbrauchen.

Angenommene Volksinitiativen 1891-2014

AbstimmungInhaltJA-Stimmen
1893Schächtverbot60,0%
1908Absinthverbot63,5%
1918Proporzwahl des Nationalrates66,4%
1920Spielbankenverbot55,2%
1921Staatsvertragsreferendum71,3%
1928Erhaltung der Kursäle51,9%
1949Rückkehr zur direkten Demokratie50,7%
1982Preisüberwachung56,1%
1987Schutz der Moore57,8%
1990Atomkraftwerkbau-Moratorium54,5%
1993Bundesfeiertag83,8%
1994Schutz der Alpen51,9%
2002Beitritt zur UNO54,6%
2004Lebenslange Verwahrung von Straftätern56,2%
2005Gentechanbau-Moratorium55,7%
2008Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern51,9%
2009Anti-Minarettinitiative57,5%
2010Ausschaffungsinitiative52,3%
2012Zweitwohnungsinitiative50,6%
2013Abzockerinitiative67,9%
2014Masseneinwanderungsinitiative50,3%
Angenommene Volksinitiativen 1891-2014 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundeskanzlei

Quellen und Literatur

  • Bundeskanzlei, Datenbank Volksinitiativen
  • Vox: Analysen eidg. Urnengänge 1-, 1977-
  • J.-D. Delley, L'initiative populaire en suisse, 1978
  • O. Sigg, Die eidg. Volksinitiativen, 1892-1939, 1978
  • H. Werder, Die Bedeutung der Volksinitiative in der Nachkriegszeit, 1978
  • E. Grisel, Initiative et référendum populaires, 1987 (32004)
  • R. Epple-Gass, Friedensbewegung und direkte Demokratie in der Schweiz, 1988
  • H.-U. Wili, «Jux populi? Vox Dei?», in ZSR, NF 110 I, 1991, 485-519
  • S. Möckli, Direkte Demokratie, 1994
  • G. Kirchgässner et al., Die direkte Demokratie, 1999
  • Hb. der Schweizer Politik, hg. von U. Klöti et al., 1999 (42006)
  • A. Trechsel, U. Serdült, Kaleidoskop Volksrechte, 1999
  • G. Rohner, Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund, 1848-2010, 2012
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Volksinitiative", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.07.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010386/2016-07-18/, konsultiert am 19.03.2024.