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Gleichheit

Auf der Grundlage des Naturrechts der Aufklärung wurde das Postulat der Gleichheit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 erstmals als Verfassungsgrundsatz deklariert. In der politischen Philosophie wird zwischen dem Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit und der Rechtsgleichheit unterschieden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Letzteres. Die Französische Revolution postulierte die Gleichheit als zentrales Wesensmerkmal des Rechtsstaats. Alle Menschen sollten mit gleichen Rechten ausgestattet werden (Menschenrechte). Allerdings galt der Grundsatz von Vornherein nur eingeschränkt; Gleichheit schloss im Verständnis des Naturrechts und der Aufklärung Frauen, Angehörige religiöser Minderheiten und Menschen anderer Hautfarbe in der Regel aus.

Aquarell von David Hess aus dessen illustrierter Streitschrift Geschichte einer Schweizer Kuh und ihres Kälbleins, in fünf Bildern dargestellt und allen Stiftern und Beförderern der neuen Helvetischen Freyheit gewidmet, 1798-1799 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, FA David Hess 72.4).
Aquarell von David Hess aus dessen illustrierter Streitschrift Geschichte einer Schweizer Kuh und ihres Kälbleins, in fünf Bildern dargestellt und allen Stiftern und Beförderern der neuen Helvetischen Freyheit gewidmet, 1798-1799 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, FA David Hess 72.4). […]

Vor 1798 lebte in der Eidgenossenschaft ein grosser Teil der Menschen in Untertanengebieten oder war aufgrund der herrschenden Ordnungen (z.B. Zunftaristokratien, Landsgemeindedemokratien) benachteiligt. In der Helvetischen Verfassung wurde die Grundlage für die politische Gleichberechtigung von Männern geschaffen (Helvetische Republik). Sie basierte auf der «natürlichen Freiheit des Menschen» und war für alle Personen männlichen Geschlechts gleichermassen gültig, unabhängig davon, ob diese zuvor Bürger der dreizehn Orte, Untertanen oder Hintersassen gewesen waren.

Die Mediationsakte von 1803 bestimmte in Artikel 3: «Es gibt in der Schweiz weder Unterthanenlande noch Vorrechte der Orte, der Geburt, der Personen oder Familie». In der Praxis wurde dieses Prinzip jedoch nicht durchgesetzt. Immerhin wurde mit der Bildung von neuen Kantonen die Gleichberechtigung der Gliedstaaten dauerhaft verwirklicht. Der Bundesvertrag von 1815 ermöglichte dann die teilweise Wiederherstellung vorrevolutionärer Zustände; das Patriziat ergriff in den aristokratischen Kantonen (Patrizische Orte) erneut die Macht. Daran änderte auch der Artikel 7 des Vertrags nichts, gemäss dem es keine Untertanenlande mehr gäbe und der Genuss der politischen Rechte nicht das «ausschliessliche Privileg einer Klasse der Kantonsbürger» darstelle.

Der Rossi-Plan, ein Verfassungsentwurf von 1832, erwähnte die Gleichheit nur als Voraussetzung zur Gewährleistung der Kantonsverfassungen (Artikel 6). Diese durften die politischen Rechte nicht auf bestimmte Bürgergruppen einschränken und keine Untertanenverhältnisse zwischen einzelnen Teilen des Kantons dulden. In der Bundesverfassung (BV) von 1848 erlangte die Rechtsgleichheit in Artikel 4 neben dem Privilegienverbot eine selbstständige Stellung: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich». Neu wurden die Niederlassungsfreiheit, die Glaubensfreiheit sowie die Gleichstellung fremder Kantonsbürger aufgenommen. Diese Grundrechte galten bis zur Teilrevision der BV von 1866 bzw. bis zur Neufassung von 1874 jedoch nur für Christen. Frauen besassen weiterhin keine politischen Rechte. Auch zivil- und erbrechtlich waren sie stark benachteiligt. So stellten die kantonalen Zivilrechte des 19. Jahrhunderts verheiratete Frauen unter die weitreichende Vormundschaft des Ehemanns. In einigen Kantonen galt die Geschlechtsvormundschaft zudem für ledige, geschiedene und verwitwete Frauen. Der Bundesgesetzgeber beseitigte zwar 1882 die Geschlechtsvormundschaft für die unverheirateten Frauen, doch die eheliche Ungleichstellung der Frauen blieb bestehen.

Der Gleichheitsartikel in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft: links Artikel 4 in der Fassung vom 12. September 1848, rechts Artikel 8 in der heute gültigen Fassung vom 18. April 1999 (Schweizerisches Bundesarchiv, K7#1000/1419#231*; Bundeskanzlei, Fedlex – Die Publikationsplattform des Bundesrechts, SR 101).
Der Gleichheitsartikel in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft: links Artikel 4 in der Fassung vom 12. September 1848, rechts Artikel 8 in der heute gültigen Fassung vom 18. April 1999 (Schweizerisches Bundesarchiv, K7#1000/1419#231*; Bundeskanzlei, Fedlex – Die Publikationsplattform des Bundesrechts, SR 101).

Anfänglich war die Konkretisierung des Gleichheitsartikels Sache der politischen Behörden, d.h. von Bundesrat und Bundesversammlung. Sie hatten sich vor allem mit Ungleichheiten bei den politischen Rechten zu befassen und erklärten etwa den Ausschluss der Dienstboten und den Vermögenszensus für verfassungswidrig. Erst in der Rechtsprechung des Bundesgerichts, bei dem kantonale Beschlüsse und Gesetze ab 1874 angefochten werden konnten, erlangte die Rechtsgleichheit eine grössere Bedeutung. Über den engen Verfassungswortlaut hinaus wurde sie nicht nur Schweizern, sondern allen Menschen zugestanden (so nun auch im Wortlaut von Artikel 8 Absatz 1 der BV 1999). Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte das Bundesgericht die noch gültige Formel, wonach die Verfassung Gleichbehandlung nur unter der Voraussetzung der Gleichheit aller tatsächlichen Verhältnisse verlangt. Ihre Anwendung setzt ein Werturteil voraus, für das die zum Zeitpunkt des Urteils herrschende Rechtsanschauung massgeblich ist. Die Rechtsgleichheit schützt nicht nur vor sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlungen (Gleichbehandlungsgebot), sondern auch vor unsachlicher Gleichbehandlung (Differenzierungsgebot). Der Grundsatz gilt jedoch nur für Handlungen innerhalb einer Gebietskörperschaft (Kanton, Gemeinde). Gemeinden und Kantone können aufgrund ihrer Kompetenzen unterschiedliche Regelungen treffen. Das Bundesgericht leitete unter der BV 1874 aus der Rechtsgleichheit als Grundprinzip des Rechtsstaats weitere Verfassungsgrundsätze und wichtige Grundrechte ab, zum Beispiel Verfahrensgarantien oder das Willkürverbot. Überholte Rechtsungleichheiten konnten zum Teil schon früh und mit Erfolg bekämpft werden, so 1923 die Nichtzulassung der Frauen zur Advokatur.

Die Geschlechtszugehörigkeit war im rechtlichen Gleichheitsdiskurs lange ein legitimer Grund für die Ungleichbehandlung. Versuche von Beschwerdeführerinnen ab den 1920er Jahren, das Frauenstimmrecht auf gerichtlichem Weg durch eine Neuauslegung der Rechtsgleichheit in den Verfassungen von Bund und Kantonen zu verankern, scheiterten durchwegs. 1959 lehnten die Stände und das rein männliche Stimmvolk eine Revision der BV ab, mit welcher das Frauenstimmrecht hätte erreicht werden sollen; Verfassungsrevisionen erschienen nun in jenen Kantonen, die der Vorlage zugestimmt hatten, unumgänglich, was die Einführung des Frauenstimmrechts in der Waadt und in Neuenburg 1959, in Genf 1960, in Basel-Stadt 1966 und in Basel-Landschaft 1968 zur Folge hatte. 1971 nahmen Stände und Stimmvolk das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen an. 1990 zwang das Bundesgericht Appenzell Innerrhoden als letzten Kanton, das Frauenstimmrecht einzuführen. Nicht stimmberechtigt auf Bundesebene sind Ausländerinnen und Ausländer sowie Minderjährige (Mündigkeit). Auf kantonaler und kommunaler Ebene stellen politische Rechte für Ausländerinnen und Ausländer und das Stimmrecht ab 16 Jahren die seltene Ausnahme dar.

Nationale Kundgebung für die Vorlage «Gleiche Rechte für Mann und Frau» auf dem Bundesplatz in Bern vom 7. Juni 1980 (KEYSTONE/Photopress, Bild 368903021).
Nationale Kundgebung für die Vorlage «Gleiche Rechte für Mann und Frau» auf dem Bundesplatz in Bern vom 7. Juni 1980 (KEYSTONE/Photopress, Bild 368903021).

1981 fand ein Artikel Aufnahme in die BV, der die Gleichbehandlung von Mann und Frau garantiert; in der BV von 1999 ist er als Artikel 8 Absatz 3 verankert. Die Verfassung von 1999 enthält auch das Diskriminierungsverbot, das einen qualifizierten Schutz vor Ungleichbehandlung bietet. Zudem hat die Schweiz 1994 das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung (Rassismus) der Vereinten Nationen (UNO), 1997 das UNO-Frauenrechtsübereinkommen sowie 2014 die UNO-Behindertenrechtskonvention (Behinderte) ratifiziert, die wichtige rechtliche Impulse für die Umsetzung der Gleichheit liefern.

Seit 1981 wurden geschlechtsspezifische Ungleichheiten im Bundesrecht nach und nach beseitigt, etwa mit der Revision des Eherechts Ende der 1980er Jahre und der Gleichstellung von Frau und Mann im Bürger- und Namensrecht (1992 und 2013). Seit Juli 1996 ist das Gleichstellungsgesetz in Kraft, das jedoch nur für den Arbeitsbereich gilt. Es schützt vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, nicht aber aufgrund anderer Faktoren wie sexueller Orientierung. Weiterhin finden sich in der Rechtsordnung formelle rechtliche Ungleichheiten, die an das Geschlecht anknüpfen, etwa hinsichtlich der Dienstpflicht (Wehrpflicht) oder der Rentenberechtigung (Altersvorsorge). Auch die materielle, tatsächliche Gleichstellung in Wirtschaft, Politik und bei der Verteilung von unbezahlter Care-Arbeit ist nach wie vor nicht verwirklicht.

Entwicklungen im gesellschaftlichen und rechtlichen Gleichheitsdiskurs führen dazu, dass neben dem Geschlecht weitere Benachteiligungen, etwa aufgrund der sexuellen Orientierung, des familienrechtlichen Status, der Geschlechtsidentität, der Hautfarbe oder wegen einer Behinderung zunehmend erkannt und kritisch reflektiert werden. Mehrfache und intersektionale wie auch institutionelle und strukturelle Diskriminierungen rücken in den Blick.

Das im Jahr 1942 vereinheitlichte schweizerische Strafgesetzbuch entkriminalisierte die gleichgeschlechtliche Sexualität in der ganzen Schweiz. Ungleichheiten zulasten schwuler und lesbischer Paare im Familienrecht milderte die Einführung der registrierten Partnerschaft (2007). Seit 2018 ist solchen Paaren die Stiefkindadoption erlaubt und seit 2022 steht ihnen die Ehe und generell das Adoptionsverfahren offen; lesbische Paare haben neu auch Zugang zur Samenspende. Seit 2020 steht neben der Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, ethnischer Zuschreibung und Religion («Rassendiskriminierung») auch die Homophobie (Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung) unter Strafe. Nicht strafrechtlich erfasst ist die Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität, namentlich von trans- und intergeschlechtlichen Personen.

Die Vorstellung der Arbeiterbewegung, die insbesondere Ende des 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung der politischen Gleichheit auch die soziale Gleichheit erreichen wollte, erwies sich als Illusion (soziale Ungleichheit). Die Rechtsgleichheit verlangt, eine gewisse Chancengleichheit, nicht aber generelle soziale Gleichheit herbeizuführen. Chancengleichheit ist eine Voraussetzung, damit politische Rechte und Freiheiten als Grundlage gesellschaftlicher Entfaltung der Einzelnen potenziell von allen wahrgenommen werden können. Insofern besteht eine Verbindung zwischen der Rechtsgleichheit und den Sozialzielen in Artikel 41 BV sowie dem Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht in Artikel 19 BV (Schulwesen). Rechtliche und tatsächliche Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht und Behinderung sind abzubauen; hierfür verlangt die Verfassung explizit spezielle Gleichstellungsmassnahmen (Artikel 8 Absatz 3 BV für die Gleichstellung von Frau und Mann und Artikel 8 Absatz 4 BV für Menschen mit Behinderung).

Die Rechtsgleichheit ist ein zentraler Grundsatz des Steuerrechts, indem sie die Allgemeinheit und die Gleichheit der Besteuerung wie auch die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verlangt (Steuern).

Plakatserie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), 2009, 128 x 90,5 cm (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Graphische Sammlung: Plakatsammlung).
Plakatserie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), 2009, 128 x 90,5 cm (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Graphische Sammlung: Plakatsammlung). […]

Quellen und Literatur

  • Weber-Dürler, Beatrice: Die Rechtsgleichheit in ihrer Bedeutung für die Rechtsetzung. Eine Untersuchung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, 1973.
  • Kölz, Alfred: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 2 Bde., 1992-2004.
  • Arroyo, Manuel: Praxis des Bundesgerichts zur Gleichberechtigung von Mann und Frau (1848-1981). Eine rechtshistorische Analyse mit besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzungen um die politische Gleichstellung der Frau in der Schweiz, 2001.
  • Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (Hg.): Frauen Macht Geschichte. Zur Geschichte der Gleichstellung in der Schweiz 1848-2000, 2001 (mit Bibliografie).
  • Vatter, Adrian (Hg.): Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, 2011.
  • Bigler-Eggenberger, Margrith; Kägi-Diener, Regula; Schweizer, Rainer J.: «Art. 8 BV», in: Ehrenzeller, Bernhard; Schindler, Benjamin et al. (Hg.): Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar, 20143, S. 201-256.
  • Waldmann, Bernhard: «Art. 8 BV», in: Belser, Eva Maria; Epiney, Astrid; Waldmann, Bernhard (Hg.): Bundesverfassung, 2015, S. 174-223.
  • Farys, Rudolf; Hümbelin, Oliver: «Materielle Ungleichheit in der Schweiz im Wandel der Zeit», in: Franzen, Axel; Jann, Ben et al. (Hg.): Essays on Inequality and Integration, 2016, S. 116-152.
  • Montavon, Michael; Previtali, Adriano: «L’interdiction des discriminations», in: Diggelmann, Oliver; Hertig Randall, Maya; Schindler, Benjamin (Hg.): Verfassungsrecht der Schweiz, Bd. 2, 2020, S. 1453-1476.
  • Juristinnen Schweiz (Hg.): Recht und Geschlecht. Herausforderungen der Gleichstellung – Quelques réflexions 50 ans après le suffrage des femmes, 2022.
Weblinks

Zitiervorschlag

Beatrice Weber-Dürler; Judith Wyttenbach: "Gleichheit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.03.2023. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010375/2023-03-09/, konsultiert am 28.03.2024.