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FrancescoChiesa

Francesco Chiesa in seinem Haus in Cassarate, um 1960. Fotografie von Liliana Holländer (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Liliana Holländer).
Francesco Chiesa in seinem Haus in Cassarate, um 1960. Fotografie von Liliana Holländer (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona, Fondo Liliana Holländer).

1.7.1871 Sagno, 13.6.1973 Lugano, katholisch, von Sagno. Sohn des Innocente, Dekorationsmalers, und der Maddalena geborene Bagutti, aus einer Malerfamilie. Bruder des Pietro (->). Urenkel des Giovanni Battista Bagutti. Corinna Galli. Francesco Chiesa besuchte das Lyzeum in Lugano und studierte Jurisprudenz in Pavia. Für kurze Zeit war er bei der Staatsanwaltschaft in Lugano tätig, ab 1897 unterrichtete er Italienisch und Kunstgeschichte am Lyzeum Lugano, dem er 1914-1943 als Rektor vorstand. Als bedeutender Dichter und Kulturorganisator wurde er mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, vom Grossen Schillerpreis (1928) über den Premio Mondadori per il romanzo (1928) bis zum Lyrik-Preis der Accademia d'Italia (1940). Er war Dr. h.c. der Universitäten Lausanne (1927), Rom (1928) und Pavia (1961).

Nach dem Jugendpessimismus von "Preludio" (1897) und der Bildungsdichtung unter dem Einfluss Giosuè Carduccis in "Calliope" (1907; deutsch 1959) und in anderen Werken wandte sich Chiesa mit "Racconti puerili" (1921; deutsch "Geschichten aus der Jugendzeit" 1922), "Tempo di marzo" (1925; deutsch "Märzenwetter" 1927) und "Racconti del mio orto" (1929) der Wiedererweckung der Kindheitserinnerungen zu. Diese Werke stehen zum einen für Chiesas Anlehnung an die Kunstprosa der Zwischenkriegszeit, zum andern sind sie mit der Frage der Italianità des Tessins und dem daraus erwachsenden staatsbürgerlichen Engagement verbunden. Das Problem der sprachlich-kulturellen Identität des Tessins hat Chiesa zeitlebens umgetrieben, sei es in seinen Antworten auf politisch-ideologische Fragen (nach der Stellung des Tessins im schweizerischen Umfeld), sei es in der Lösung konkreter Probleme zur Verteidigung der italienischen Sprache (indem er sich etwa zur Frage der Universitätsgründung in der italienischen Schweiz äusserte). Tatsächlich trug Chiesa neben seinen vielen Aktivitäten in dieser Richtung zum Entwurf verschiedener kantonaler Gesetze bei, etwa des Schulgesetzes und des Gesetzes über die Geschäftsschilder und Firmenanschriften (1931); er war als Präsident der kantonalen Denkmalkommission (ab 1912) und der Kommission für Natur- und Heimatschutz (ab 1917) tätig; so wurde er für einen beträchlichen Teil des 20. Jahrhunderts zu einem eigentlichen Führer des Tessiner Kulturlebens. Die kompromisslose Verteidigung der Italianità, die vor allem mit der Sprache gleichgesetzt wurde, brachten Chiesa zeitweise in die Nähe des Faschismus (wie im Fall der Attacke gegen den Italiener Gaetano Salvemini 1928). Chiesa war ein gefragter Berater von Politikern, insbesondere auf kantonaler Ebene (etwa Giuseppe Cattoris), aber auch auf eidgenössischer Ebene (Giuseppe Mottas). Auf literarischem Gebiet – Chiesa selber sah seine Stärken mehr in der Lyrik als in der Erzählung – reiften die "Racconti puerili" und "Tempo di marzo" im Gefolge eines Regionalismus, in welchem Chiesa dem "Ruf des kleinen Vaterlandes" nachkam; er hegte Vorbehalte gegenüber den Avantgardebewegungen und dem Futurismus, in der Überzeugung, dass die Kultur der italienischen Schweiz sich bloss an den gesicherten Werten der Vergangenheit orientieren müsse.

Von daher rührte seine Treue zur Poetik Alessandro Manzonis, zumindest als Richtschnur für die Sprache und für das Masshalten; dies zeigt sich auch beim Thema Kindheit in einer Dimension, die man vorgeschlechtlich nennen könnte (die "undefinierbaren Verwirrungen des März" in "Con gli occhi chiusi" von Federico Tozzi lassen die Grenzen von "Tempo di marzo" erahnen): Themen und Charaktere, die nicht ohne Paternalismus auch den Übertreibungen der Tessiner entgegengesetzt werden, gegen die er in den jugendlichen Briefen "Dalla repubblica dell' Iperbole" (1899: "Lettere iperboliche" in der Ausgabe von 1976) losgezogen war. Das Verhältnis zur italienischen Tradition ist mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des Faschismus erschüttert worden. Im Klima, das gekennzeichnet war durch die Anwesenheit italienischer Schriftsteller, die Wortmeldungen Gianfranco Continis und dem emblematischen Erfolg Giorgio Orellis, der wie eine Stabsübergabe anmutet, vertiefte sich die Kluft zwischen Chiesa und der jungen Generation bis zur Unüberbrückbarkeit. In den letzten Jahren verfeinerte Francesco Chiesa sein Talent als Moralist und Autor von Aphorismen; als artefice malcontento (missvergnügter Handwerker) korrigierte er seine Gedichte und kam in den "Sonetti di San Silvestro" (1971) zu einigen seiner überzeugendsten Ergebnissen.

Quellen und Literatur

  • E. Cecchi, Studi critici, 1912
  • P. Bianconi, Colloqui con Francesco Chiesa, 1956
  • R. Amerio, Colloqui di San Silvestro con Francesco Chiesa, 1974
  • P. Fontana, «Francesco Chiesa», in Letteratura italiana. I contemporanei, 4, 1974, 39-54
  • Le quattro letterature della Svizzera nel secolo di Chiesa, hg. von M. Agliati, 1975
  • Carteggio Bertoni-Chiesa 1900-1940, hg. von G. Orelli, D. Rüesch, 1994
Weblinks
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Kurzinformationen
Familiäre Zugehörigkeit
Lebensdaten ∗︎ 1.7.1871 ✝︎ 10.6.1973

Zitiervorschlag

Pio Fontana: "Chiesa, Francesco", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.05.2021, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010148/2021-05-26/, konsultiert am 28.03.2024.