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Kollegialsystem

Das Kollegialsystem, ein Organisationsprinzip aus dem Ancien Régime, ist in verschiedenen privaten und öffentlichen Bereichen anzutreffen: auf Bundesebene, aber auch in Kantonen, Gemeinden und Vereinsvorständen. Als republikanisches Element vor allem bei der Regierungsorganisation ist es ein zentraler Bestandteil schweizerischer Tradition. Es beruht auf einem Kollegium, also einem Zusammenschluss mehrerer Menschen, die durch Wahlen autorisiert als selbsttätige rechtliche Einheit wirken. Idealiter erfüllen die gleichberechtigten Mitglieder ihre Aufgaben ohne Führung eines Einzelnen. Auf dem Kollegialsystem beruht das Kollegialitätsprinzip, ein Verhaltenskodex für und von Mitgliedern einer Kollegialbehörde, der diese – meist politische Eliten – verpflichtet, die kollektiv und nach dem Mehrheitsprinzip getroffenen Beschlüsse nach aussen zu vertreten und zu verantworten.

Das Kollegialsystem beherrschte bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Verwaltung. 1848 wurde es auf Bundesebene, namentlich im Gremium des Bundesrats, nach verschiedenen Vorbildern geschaffen: nach den Verfassungen der alteidgenössischen Städte, der liberalen Kantone der Regenerationszeit, der Amerikanischen und Französischen Revolution sowie der Helvetischen Republik. Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874, welche die Aufgabenbereiche des Bundes erheblich ausweitete, kam die kollegiale Arbeitsweise des Bundesrats unter Druck. Schritt für Schritt wurden die Sachgeschäfte in einzelne Spezialbereiche gegliedert. Ihre Vorbereitung und Erledigung, zum Teil gar die Entscheidungskompetenz, gingen vom Bundesratskollegium auf die von Einzelnen geführten Departemente oder auf untere Instanzen über.

Das Kollegialsystem soll Einheit stiften und die Machtbefugnisse des Einzelnen mässigen; in diesem Sinne ist es Ausdruck einer umfassenden Gewaltenteilung. Das Kollegialsystem steht in der schweizerischen Proporztradition, die in der Gleichheit ein regulatives Prinzip erblickt, das die pluralistische Gemeinschaft widerspiegelt und durch Kompromiss integrierend wirkt. Der Leitgedanke der Konkordanz findet im schweizerischen Kollegialsystem eine ideale Organisationsform, wobei dieses aber einer Abkehr von der Konkordanzdemokratie nicht prinzipiell im Wege steht. Das Kollegialsystem gestattet dank überpersonaler Kontinuität die Bewahrung und Tradierung von Einsicht, Wissen und Kompetenz. Weil die Regierungsmitglieder nicht abgesetzt werden, erscheint das schweizerische Regierungssystem als stabil und dauerhaft.

Das Kollegialsystem macht den Bundesrat – in Verbindung mit der Wahl durch die Vereinigte Bundesversammlung und dem grossen Spielraum, den er bei der Vorbereitung und beim Vollzug der Gesetze hat – zu einem international einzigartigen Regierungsorgan. Bis heute ist seine Entlastung und damit die Verstärkung des Kollegialsystems bei den Geschäften, die dem Bundesrat vorbehalten bleiben, Thema von politischen Vorstössen und Reformvorhaben. Im Vordergrund steht die Vergrösserung der Mitgliederzahl, diskutiert wird aber auch die Aufwertung des Bundespräsidenten, der als Primus inter Pares den – rotierenden – Vorsitz innehat. Seine schwache Stellung ist charakteristisch für das Kollegialsystem. Durchgesetzt hat sich der Ausbau von Stabseinrichtungen und eine verstärkte Delegation von Geschäften. Ungelöst ist die Frage, wie das im Vergleich mit ausländischen Regierungen kleine Bundesratskollegium die stark gewachsenen internationalen Kontakte bewältigen soll.

Quellen und Literatur

  • P. Saladin, «Probleme des Kollegialprinzips», in ZSR, 1985, 272-286
  • H. Zwicky, «Kollegialregierung», in Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 65, 1985, 213-222
  • H. Ueberwasser, Das Kollegialprinzip, 1989
  • M. Breitenstein, Reform der Kollegialregierung, 1993
Weblinks

Zitiervorschlag

Heinrich Ueberwasser: "Kollegialsystem", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.10.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010093/2008-10-28/, konsultiert am 19.03.2024.