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MoritzLeuenberger

21.9.1946 Biel, reformiert, von Rohrbach. Anwalt, Zürcher National- und Regierungsrat, sozialdemokratischer Bundesrat.

Nationalrat Moritz Leuenberger während einer Parlamentssession in Bern. Fotografie von Walter Rutishauser, 1981/1982 (Bibliothek am Guisanplatz, Bern, Portraitsammlung Rutishauser).
Nationalrat Moritz Leuenberger während einer Parlamentssession in Bern. Fotografie von Walter Rutishauser, 1981/1982 (Bibliothek am Guisanplatz, Bern, Portraitsammlung Rutishauser).

Moritz Leuenberger, Sohn des Robert Leuenberger, Theologieprofessors, und der Ruth geborene Mauch, Romanistinwuchs zusammen mit drei Geschwistern in Biel (Primarschule) und Basel (Humanistisches und Freies Gymnasium, 1966 Matura Typus A) auf. Das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich (1966-1970) schloss er mit dem Lizenziat ab. Bereits als Student begann er sich – beeinflusst vom gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 (Jugendunruhen) – politisch zu engagieren (Sozialistische Hochschulgruppe, Kleiner Studentenrat). 1969 trat er der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei. 1972 erwarb Leuenberger in Zürich das Anwaltspatent und gründete ein Anwaltsbüro, in dem er bis 1991 arbeitete. Bekannt wurde er als juristischer Vertreter von systemkritischen zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie der Regierung der Philippinen bei der Suche nach den Geldern des Diktators Ferdinand Marcos in der Schweiz. Leuenberger war in erster Ehe mit Dolores Ackermann verheiratet (1976 Scheidung) und Vater eines 1970 geborenen gemeinsamen Sohns. 1975 kam Leuenbergers zweiter Sohn zur Welt; dessen Mutter, die Architektin Gret Loewensberg, heiratete er 2003.

Seine politische Karriere begann Leuenberger in Zürich als Präsident der städtischen SP (1972-1980) sowie als Gemeinderat (Legislative, 1974-1983). Von 1979 bis 1995 war er Mitglied des Nationalrats, in dem er die Geschäftsprüfungskommission und die Kommission für die Revision des Aktienrechts präsidierte. Schweizweite Bekanntheit erlangte er 1989-1990 als Präsident der Parlamentarischen Untersuchungskommission, welche die Umstände beim Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp untersuchte und im Lauf ihrer Abklärungen die Fichenaffäre (Staatsschutz) aufdeckte. 1986-1991 war er zudem Präsident des Schweizerischen Mieterverbands (Mieterverbände). 1991 wurde Leuenberger in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt, dem er bis 1995 als Vorsteher der Direktion der Justiz und des Innern angehörte. 1993 hatte er die politische Verantwortung für einen Mord zu übernehmen, den ein Sexualstraftäter auf Hafturlaub verübte. Der Fall, der ein grosses Echo in der Öffentlichkeit auslöste, führte zu einem Umdenken im Strafvollzug.

Moritz Leuenberger präsentiert vor den Medien in Bern am 24. November 1989 den Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) über die «Vorkommnisse im EJPD» (KEYSTONE, Fotografie 253650329).
Moritz Leuenberger präsentiert vor den Medien in Bern am 24. November 1989 den Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) über die «Vorkommnisse im EJPD» (KEYSTONE, Fotografie 253650329). […]

Am 27. September 1995 wählte die Vereinigte Bundesversammlung Leuenberger als Nachfolger von Otto Stich in den Bundesrat. Er war neben dem Freiburger Nationalrat Otto Piller einer der beiden offiziellen Kandidaten der SP. Nach einem erfolglosen Versuch rechtsfreisinniger Abgeordneter, mit Ständerätin Vreni Spoerry die Zauberformel zu sprengen, wurde Leuenberger im fünften Wahlgang mit 124 Stimmen (absolutes Mehr 106 Stimmen) gewählt. Infolge einer grossen Departementsrochade übernahm Leuenberger das Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement (EVED). Diesem stand er bis zu seinem Rücktritt am 31. Oktober 2010 vor. 2001 und 2006 war er Bundespräsident.

Das EVED mit seinen breit gefächerten Dossiers entwickelte sich in den 1990er Jahren zu einem Schlüsseldepartement, eine Entwicklung, die schon unter Leuenbergers Vorgänger Adolf Ogi begonnen hatte und sich nun fortsetzte. Die neue Bezeichnung Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) ab 1998 trug der wachsenden Bedeutung des Umwelt- und Klimaschutzes in einer immer mobileren Industriegesellschaft Rechnung, die in den seit 1992 stattfindenden internationalen Klimakonferenzen und 1994 in der Annahme der Alpen-Initiative zum Ausdruck kam. Weitere Schritte für eine nachhaltige Verkehrspolitik durch Verlagerung des Strassenverkehrs auf die Schiene und den Ausbau der Bahninfrastruktur waren 1998 die Volksmehrheiten für die Ausgestaltung der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) – der im Folgejahr die Zustimmung der Europäischen Union (EU) zu einer Transitgebühr für Lastwagentransporte durch die Schweiz folgte – sowie für die Finanzierung von Grossprojekten des öffentlichen Verkehrs (Neat, Bahn 2000, Anschluss an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz, Lärmschutz). Im Strassenverkehr stand weiterhin der Ausbau der Nationalstrassen im Vordergrund. Mit dem während seiner Amtszeit initiierten Handlungsprogramm für mehr Sicherheit im Strassenverkehr Via sicura (Reduktion der Promillegrenze, Tempolimiten usw.) konnte ab 2012 die Zahl der Toten und Verletzten markant gesenkt werden. Im Flugverkehr leitete Leuenberger eine Liberalisierung ein. Den von ihm ausgehandelten Kompromiss mit Deutschland über das Anflugregime am Flughafen Zürich lehnte das Parlament als zu weitreichend ab; darauf erliess Deutschland strengere Auflagen. Nach dem Grounding der Swissair 2001 war Leuenberger an den Diskussionen über die Gründung der Swiss beteiligt.

Bundesrat Moritz Leuenberger inszeniert sich in Bern medienwirksam für die Kampagne zur Einführung der Energieetikette für neue Personenwagen. Fotografie vom 24. Februar 2003 (KEYSTONE / Edi Engeler, Bild 12220739).
Bundesrat Moritz Leuenberger inszeniert sich in Bern medienwirksam für die Kampagne zur Einführung der Energieetikette für neue Personenwagen. Fotografie vom 24. Februar 2003 (KEYSTONE / Edi Engeler, Bild 12220739). […]

Die klimapolitische Vorlage für eine Umweltabgabe auf nicht erneuerbare Energien lehnte das Volk 2000 ab, doch gelang es Leuenbergers Departement, strengere Verordnungen über Feinstaub, Ozon, Klärschlamm usw. in Kraft zu setzen; 2005 stimmte das Parlament einem Gesetz zur Senkung des CO2-Ausstosses zu. In der Energiepolitik stellte sich Leuenberger gegen eine unbefristete Laufzeit der Atomkraftwerke, aber auch gegen ihr rasches Abschalten. Weiter befürwortete er die Strommarktliberalisierung, deren Umsetzung im Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) die Stimmberechtigten 2002 jedoch verwarfen. Demgegenüber hielt Leuenberger in seiner Medienpolitik am gesetzlichen Grundversorgungsauftrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) fest und stand privaten Anbietern skeptisch gegenüber. 2007 ermöglichte das totalrevidierte Radio- und Fernsehgesetz Betreibern von privaten Radio- und Fernsehsendern, in Verbindung mit einem Leistungsauftrag Anteile am Ertrag der Empfangsgebühren zu erhalten. 2008 erteilte das Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) 41 lokal-regionalen Radio- und 13 regionalen Fernsehanbietern eine Konzession. Den neoliberalen Forderungen nach Deregulierung der Staatsbetriebe Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT) und Schweizerische Bundesbahnen (SBB) kam Leuenberger teilweise entgegen. Die PTT wurde 1998 aufgeteilt: Die Post behielt die Brief- und Paketpost sowie den Zahlungsverkehr, während gleichzeitig die Paketpost für private Anbieter geöffnet wurde. Das Fernmeldewesen übernahm die neugeschaffene Swisscom AG, ab 2003 wurden auch private Anbieter zugelassen. Ebenfalls 1998 wurde die SBB von einem Regiebetrieb in eine spezialrechtliche Aktiengesellschaft überführt. Neue Regelungen ermöglichten im Personenverkehr den Wettbewerb von Bahn- und Busbetrieben und im Güterverkehr die Gründung der SBB Cargo (1999) sowie die Zulassung ausländischer Dienstleister. An der Swisscom und den SBB, die ihrerseits die SBB Cargo kontrolliert, behielt sich der Bund eine Mehrheitsbeteiligung vor.

Bundesrat Moritz Leuenberger im Bericht zum Gottharddurchstich in der Sendung 10 vor 10 des Fernsehens der deutschen Schweiz vom 15. Oktober 2010 (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF).
Bundesrat Moritz Leuenberger im Bericht zum Gottharddurchstich in der Sendung 10 vor 10 des Fernsehens der deutschen Schweiz vom 15. Oktober 2010 (Schweizer Radio und Fernsehen, Zürich, Play SRF). […]

Moritz Leuenberger, der als Vertreter einer von der 1968er-Bewegung geprägten, urbanen Generation in den Bundesrat gewählt worden war, politisierte im Spannungsfeld zwischen neoliberalen Forderungen, Vernetzung in Europa, Globalisierung und ökologischer Kritik pragmatisch und behielt die sozial Benachteiligten im Auge. Seine Interpretation des Service public, die Leistungserbringungen der Grundversorgung auch von Privaten – jedoch unter Kontrolle des Staates – billigte, stiess im linken politischen Spektrum, auch in der eigenen Partei, auf Kritik. Umgekehrt warfen ihm die bürgerlichen Parteien vor, die Liberalisierung zu zögerlich voranzutreiben. Deshalb wurde das Departement nach seinem Abgang 2010 nicht wieder einem SP-Mitglied überlassen. Nach seinem Rücktritt war Leuenberger 2010-2015 Mitglied der Luftfahrtstiftung, welche die Eigenständigkeit der Swiss innerhalb des Lufthansa-Konzerns sichern sollte. Wegen seines Verwaltungsratsmandats beim Baukonzern Implenia AG 2011-2013 wurde er heftig angegriffen, da die Firma am Bau der Neat beteiligt war. 2013-2016 sass er im Verwaltungsrat der Susi Partners, eines Unternehmens für nachhaltige Investitionen. 2015-2021 moderierte er die monatliche Matinée im Bernhard Theater Zürich.

Für seine Verdienste um die europäische Verkehrspolitik verlieh ihm die Universität Udine 2001 den Ehrendoktor. Die Gemeinschaft der Europäischen Bahnen (CER) und der Verband der Europäischen Eisenbahnindustrie (Unife) zeichneten ihn 2009 mit dem European Railway Award aus. Leuenberger war bekannt für seine brillante Rethorik; 2003 erhielt er den Cicero-Rednerpreis für die beste politische Rede des Jahres im deutschsprachigen Raum.

Quellen und Literatur

  • Leuenberger, Moritz: Träume & Traktanden. Reden und Texte, 2000 (20026).
  • Leuenberger, Moritz: Protokoll einer Stunde über das Alter. Moritz Leuenberger im Gespräch mit Laure Wyss, 2001.
  • Leuenberger, Moritz: Die Rose und der Stein. Grundwerte in der Tagespolitik. Reden und Texte, 2002.
  • Leuenberger, Moritz: Lüge, List und Leidenschaft. Ein Plädoyer für die Politik. Unterlegt mit vierzehn Reden, 2007.
  • Tages-Anzeiger, 11.8.1998; 5.12.2005; 9.7.2010.
  • Bolliger, Christian; Linder, Wolf; Rielle, Yvan (Hg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 bis 2007, 2010.
  • Müller, Felix E.: «Moritz Leuenberger», in: Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon, 2019, S. 638-644 (einschliesslich Korrigendum, September 2019).
  • Boos, Susan: Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens, 2022, S. 27-33.
Weblinks
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Zitiervorschlag

Markus Bürgi: "Leuenberger, Moritz", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.07.2022. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/033679/2022-07-26/, konsultiert am 17.04.2024.