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Genealogie

Die Genealogie oder Geschlechterkunde erforscht die Abstammungsverhältnisse von und in Familien. Ursprünglich befasste sie sich mit der Ermittlung biologischer, rechtlicher und gesellschaftlich-ständischer Beziehungen in Geschlechtern des Adels und der Aristokratie. Im 19. Jahrhundert entwickelte sie sich zu einer historischen Hilfswissenschaft. Im 20. Jahrhundert wurde sie mit autarker Zielsetzung insbesondere in der Familienforschung fruchtbar.

Ursprüngliche Rolle

Die Genealogie diente schon im Spätmittelalter der Ahnenforschung des Adels zu praktischen Zwecken: Mit ihr liess sich der Nachweis adeliger Abstammung, der bei der Aufnahme in ein adliges Stift oder ein Domkapitel verlangt wurde, erbringen oder eine bestimmte Stammfolge bei Erbfällen nachweisen. Im Gebiet der Schweiz, in dem der (Hoch-)Adel ausgestorben oder weggezogen war, wurde die Genealogie ab dem 16. Jahrhundert Sache der neuen städtischen und ländlichen Oberschichten, zu denen zunehmend auch Familien bürgerlich-handwerklicher und bäuerlicher Herkunft gehörten. Diese liessen, oft durch Familienmitglieder, Stammbücher, Stammtafeln und Stammbäume erstellen, die das Geschichts- und Familienbewusstsein der jungen Generation fördern sollten (so zum Beispiel das Stammregister der bernischen Patrizierfamilie von Erlach von 1542). Im 18. und 19. Jahrhundert legten einzelne Angehörige solcher Familien vielbändige Sammlungen an, welche zum Teil die Genealogien aller Ratsfamilien aus ihrer Stadt umfassten. Aus teils persönlich-familiären, teils familiär-ständischen Beweggründen entstanden so zum Beispiel in Bern die Sammlungen Gruner, Stettler, von Stürler, von Werdt und von Rodt.

Stammbaum der Familie Sinner, Aquarell um 1795 (Bernisches Historisches Museum).
Stammbaum der Familie Sinner, Aquarell um 1795 (Bernisches Historisches Museum). […]

Das Interesse an der Genealogie weckten Kontakte mit europäischen Adelskreisen, die sich aus Heiratsverbindungen mit der ausländischen Aristokratie ergaben oder im 18. Jahrhundert auch in fremden Diensten und im 19. Jahrhundert während Studienaufenthalten, vor allem an deutschen Universitäten, aufgenommen wurden. Die Heraldik war eng mit der Genealogie verbunden, da Siegel, Petschaft und Wappenschild der Identifikation verschiedener Linien eines Geschlechts dienten (Wappen). Überschaubare einheimische Verhältnisse verlangten den genealogischen Nachweis der Herkunft selten, am ehesten noch bei erbrechtlichen Fragen, zum Beispiel beim Fideikommmiss. Diese Sonderform des Erbrechts forderte bei der Ältesten-Erbfolge den genealogischen Nachweis des Rechts des Erstgeborenen (Primogenitur) und seiner Linie. Ein letztes Mal dokumentierten europäische Adlige mit Stammtafeln Ansprüche auf heute schweizerischem Territorium im Gerangel um die Erbfolge im Fürstentum Neuenburg 1707.

Genealogie als Wissenschaft

Als sich im 19. Jahrhundert die Geschichte als selbstständige Wissenschaft zu etablieren begann, zog sie neben anderen Hilfswissenschaften wie der Heraldik auch die Genealogie bei. Genealogische Fragestellungen wurden vor allem von Mediävisten untersucht, welche die gängigen Quellenkategorien – Urkunden, Nekrologien, Annalen, Chroniken – entsprechend den Regeln der historisch-kritischen Methode auswerteten. Dabei entwickelten sie weitergehende Richtlinien für die Darstellung von Verwandtschafts- und Abstammungsverhältnissen in Grafiken (Kennzeichnung sicherer und unsicherer Abfolgen, von Bastarden und kognatischer Verwandtschaft usw.) und den erläuternden Textteil (Titel, Etappen der Laufbahn, Herrschaftsbesitz usw.), der notwendig war, um die Stammtafel übersichlich zu halten. Zum Standard wurden auch die Quellenangabe und die wortgetreue Wiedergabe der Quellentexte.

Zur wissenschaftlichen Arbeitsweise gehören heute die möglichst breite Quellenbasis, die genaue genealogische Identifikation durch Ausnützung sämtlicher Angaben (auf dem Land zum Beispiel familiäre Übernamen und Hofnamen) und der Verzicht auf unzulässige Spekulationen bei lückenhaften oder fehlenden Angaben. Zu den genealogischen Quellen zählen Kirchenbücher, die ab dem 16. oder 17. Jahrhundert verfasst wurden, und später die Zivilstandsregister. Solche führten zuerst nur einzelne Kantone (z.B. Waadt 1821, Bern ab 1823-1825, Luzern ab 1833-1834), bis das Zivilstandswesen 1876 für die gesamte Schweiz vereinheitlicht wurde. Beigezogen werden Urkunden (ab dem 15. Jahrhundert), Bücher (städtische Rats- bzw. Gemeindeprotokolle, Dorfchroniken), Akten (z.B. Testamente, Nachlassinventare, Gülten, Konkurs-, Hofteilungs- und Gerichtsakten), Register (Haushalts-, Populationsregister, Steuerlisten) und Bildmaterial (Fotos) aus den kommunalen Archiven.

Darstellungsformen

Die Ergebnisse genealogischen Sammelns und Forschens wurden teils in Textform, teils in schematischer Form dargestellt. Ersterer sind auch die Lexika zuzurechnen, zum Beispiel Johann Jakob Leus «Allgemeines Helvetisches, Eydgenössisches oder Schweitzerisches Lexicon» (1747-1765) sowie das «Historisch-Biographische Lexikon der Schweiz» (1921-1934).

Die vorherrschende und in den genealogischen Handbüchern meist angewendete Form ist die schematische Darstellung in genealogischen Tafeln, die zum Teil durch Kommentare ergänzt werden. Grundsätzlich lässt sich ein Individuum auf zwei verschiedene Arten betrachten: Wird eine Person rückwärts (aufsteigend) verfolgt zur Erforschung ihrer Vorfahren, wird dies in einer Aszendenztafel (auch Vorfahren- oder Ahnentafel) dargestellt. Im Gegensatz dazu wird bei der vorwärts (absteigend) verfolgten Person ihre Nachkommenschaft oder Deszendenz untersucht, es entsteht eine Deszendenztafel (auch Nachfahren- oder Enkeltafel). Diese Grundtypen enthalten agnatische (Mannesstamm) und kognatische (Weibesstamm) Blutsverwandte.

Die Aszendenz- und Deszendenztafeln werden unter verschiedenen genealogischen Aspekten variiert: Die Stammtafel beschränkt sich auf die Nachkommen der männlichen Namensträger, Töchter werden aufgeführt, aber nicht weiterverfolgt. Im Deszentorium und Aszentorium werden Abstammungslinien (Deszente) erarbeitet, je nach Auftrag als Vater- (Mannesstamm) oder Mutterreihe (Mutterstamm), um zum Beispiel biologisch vererbte Begabungen in bestimmten Linien aufzuzeigen. Auszüge lassen sich für unterschiedliche Aspekte erstellen, zum Beispiel Erbtafeln (nur Nachfahren eines bestimmten Erblassers) und Regententafeln (zum Thron berufene Nachkommen eines Herrschers). Zu naturwissenschaftlich-biologischen Zwecken wurde in Konsanguinitätstafeln (Verwandtschaftstafeln) die gesamte Blutsverwandtschaft eines Probanden unter Einbezug von dessen Aszendenz und Deszendenz rekonstruiert (z.B. Nachfahrentafel Rübel, 1943). Sippschaftstafeln enthalten zusätzlich die Ahnen der Ehefrauen von Nebenfahren.

Für die Genealogie als Wissenschaft und für den praktischen genealogischen Gebrauch waren Stammtafeln (nur männliche Deszendenz) die häufigste tabellarische Darstellungsform. Da in der vaterrechtlich geprägten Tradition nicht so sehr das biologische Erbe, als vielmehr das mit dem Familiennamen verknüpfte Manneserbe zur rechtlichen und gesellschaftlichen Bewertung einer Person diente, die agnatische Abstammung vor der kognatischen also die grössere Rolle spielte, genoss die Vater- oder Stammreihe Vorrang (v.a. in den Handbüchern des Adels). Bei Einheiraten in Hochadelsdynastien ohne männlichen Nachkommen galt, dass der ständisch tiefer stehende Einheiratende den Namen weiterführte (z.B. Graf von Kyburg, ab 1273 Neu-Kyburg). Der wappengeschmückte Stammbaum mit dem Stammvater an der Wurzel, der auf keinem Schloss oder Herrensitz fehlte und manche Bürgerstube zierte, wird von der wissenschaftlichen Genealogie nicht verwendet. Seit den 1980er Jahren setzt sich die horizontale Darstellung als Folge der Verwendung von Computern zunehmend durch.

Forschungsziele

Die wissenschaftliche Genealogie verstand sich als Teil der Geschichtswissenschaften und war integriert in historische Gesamtdarstellungen, anfänglich vor allem in Herrschaftsgeschichten über hochadlige Dynastien (u.a. Zähringer, Lenzburger, Habsburger, Kyburger, Savoyer), über Familien von Freiherren und solche aus dem Ministerialadel. Namhafte Mediävisten und Historiker schufen monumentale genealogische Werke wie zum Beispiel die «Oberrheinischen Stammtafeln» (1912).

Ab Ende des 19. Jahrhunderts gewann die Familienforschung an Bedeutung. Als Einzelunternehmen entstanden genealogische Handbücher zu bürgerlichen Familien, zum Beispiel der «Recueil généalogique suisse» (ohne Tafeln, 3 Bände, 1902-1918) von Louis Dufour-Vernes und Albert Choisy, das «Schweizerische Geschlechterbuch» (12 Bände, 1905-1965) und das «Schweizerische Familienbuch» (4 Bände, 1945-1963). Erarbeitet wurden auch Stammregister von Familien der Korporationen in Uri und Schwyz. Oft waren rechtlich-praktische Gründe Anlass zur Forschung, zum Beispiel Erbschaftsverfahren wie in Glarus, wo ab 1893 in öffentlichem Auftrag die Genealogien aller Glarner Geschlechter erarbeitet wurden (seit 1988 Weiterführung durch das Landesarchiv). Berufsgenealogen wie zum Beispiel James Galiffe (Genf), Wilhelm R. Staehelin (Basel), Johann Jakob Kubly-Müller (Glarus), Anton Küchler (Unterwalden), Julius Billeter und Johann Paul Zwicky von Gauen arbeiteten auf Auftragsbasis. Private genealogische Sammlungen wurden als Bestände öffentlicher Bibliotheken der Forschung zugänglich gemacht.

Die Naturwissenschaft interessierte sich schon früher für die Genealogie als wichtige Hilfswissenschaft der Vererbungslehre (Erbbiologie), unter anderem zur Erforschung bestimmter Erbkrankheiten wie zum Beispiel der durch Frauen übertragenen Bluterkrankheit. An sich legitime wissenschaftliche Interessen, kombiniert mit älteren Rassentheorien, entarteten in der Rassenideologie der Nationalsozialisten, welche die Genealogie zur Feststellung der arischen bzw. jüdischer Herkunft und zur Durchsetzung von Gebietsansprüchen im Osten missbrauchten.

Eine Welle intensiver genealogischer Tätigkeit setzte in den 1960er Jahren ein, als die Genealogische Gesellschaft von Utah (Departement der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage) aus heilsideologischen Gründen die Kirchenbücher systematisch auf Mikrofilme aufnahm und diese der schweizerischen Forschung zur Verfügung stellte. Den Mikrofilm-Leihdienst betreiben eigene Forschungsstellen in Zürich, Pratteln und Genf (1997) sowie ein ausgebauter genealogischer Service auf dem Internet. Das Filmmaterial der Mormonen dient auch den Benutzern der schweizerischen Archive.

Neue Forschungsziele verfolgte die seit Ende der 1960er Jahre auch in der Schweiz betriebene historische Demografie, deren Familienrekonstruktionen zwar auch auf Kirchenbüchern beruhten, die aber – im Gegensatz zur Genealogie und ähnlich wie die Sozialgenealogie (Familiensoziologie) – deskriptiv-statistisch arbeitete und auf vitalstatistischen Durchschnittswerten basierte.

Organisationen und ihre Publikationen

Vom Ende des 19. Jahrhunderts an wurden mehrere Gesellschaften ins Leben gerufen, welche genealogische Zielsetzungen verfolgten und entsprechende Publikationsreihen edierten. 1891 wurde als erste die Schweizerische Heraldische Gesellschaft gegründet, die das «Genealogische Handbuch zur Schweizer Geschichte» (4 Bände, 1900-1980) und das «Schweizer Archiv für Heraldik» herausgab. Die erste regionale Gesellschaft war die 1910 gegründete Société généalogique vaudoise, der man den «Recueil de généalogies vaudoises» (3 Bände, 1912-1950) verdankt.

Doppelseite aus dem 2. Band des Familiennamenbuchs der Schweiz, 31989.
Doppelseite aus dem 2. Band des Familiennamenbuchs der Schweiz, 31989.

Breiteste Wirkung hatte die 1933 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Familienforschung, die bis 1998 als Dachgesellschaft von elf selbstständigen regionalen Organisationen wie zum Beispiel der Genealogisch-Heraldischen Gesellschaft der Region Basel fungierte. Die Gesellschaft für Familienforschung versah ihre Mitglieder, meist Laiengenealogen, mit umfassenden Informationen und Anleitungen zur wissenschaftlichen Arbeitsweise. Zum Hilfsangebot zählten diverse Periodika wie «Der Schweizer Familienforscher» (1938-1973, ab 1974 Jahrbuch), die Reihe «Arbeitshilfen für Familienforscher» und das «Familiennamenbuch der Schweiz». Sie unterstützte die ab 1980 von den Mormonen eingeführte elektronische Erfassung genealogischer Daten und begann in den 1990er Jahren mit dem Aufbau eines genealogischen Hilfsservice auf dem Internet. 1986 wurde in Zürich die Schweizerische Vereinigung für jüdische Genealogie gegründet, welche vierteljährlich die Vereinszeitschrift «MAAJAN – Die Quelle» herausgibt.

Seit dem späten 20. Jahrhundert führte das generelle Interesse an Genealogie zur Gründung von genealogischen Gesellschaften auch in bis dahin abseits stehenden Kantonen und Landesteilen, so im Kanton Jura und im Berner Jura 1989, in der italienischen Schweiz 1997, in Graubünden 1999 und in Genf 2001.

Quellen und Literatur

  • O. Forst de Battaglia, Wissenschaftl. Genealogie, 1948
  • H. Kläui, «Wappen, Taufnamen und Grundbesitz als Hilfsmittel zur Aufstellung von Stammtaf. des niederen Adels», in Genealog. Jb. 11, 1971, 5-12
  • P.A. Nielson, «Observations on the Swiss Genealogical Research of Julius Billeter in Comparison with Original Bernese Vital Records», in Genealogica & Heraldica, 1982
  • Familiennamenbuch der Schweiz, 3 Bde., 31989
  • B. de Diesbach-Belleroche, «Les recherches généalogiques en Suisse», in La généalogie, hg. von J. Valynseele, 1991, 217-229
  • M. von Moos, Familiengeschichtl. Bibl. der Schweiz, 2 Bde., 21994
  • A. von Brandt, Werkzeug des Historikers, 151998
  • E. Henning, «Sozialgenealogie und Hist. Demographie, Prosopographie und Biographieforschung», in Genealogie, Sonderheft, 1998, 4-13
  • E. Brunner, «Genealogie und Heraldik unter staatl. Aufsicht im absolutist. Bern», in Schweizer Archiv für Heraldik 113, 1999, 36-46
  • R. Krähenbühl, Familiengeschichtl. Bibl. der Schweiz, Ergänzungsbd., 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Genealogie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.11.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012811/2013-11-26/, konsultiert am 28.03.2024.