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Rechtsanwälte

Advokaten

Einst ein untergeordnetes öffentliches Amt mit wenig profiliertem Aufgabenbereich, hat sich das Anwaltsmetier mit der Kodifizierung der Rechtsnormen im modernen Ordnungs- und Verfassungsstaat zu einem sogenannten freien Beruf entwickelt. Seine Aufgaben innerhalb des Rechtssystems nimmt der Rechtsanwalt in funktionaler Abgrenzung zu anderen im Gerichtswesen, dem Notariat oder in den Rechtswissenschaften tätigen Juristen wahr.

Der Prokurator. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Zentralbibliothek Zürich).
Der Prokurator. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Zentralbibliothek Zürich). […]

Im Gebiet der heutigen Schweiz kannte das Prozesswesen des Mittelalters und der frühen Neuzeit weniger den aus dem römischen Recht hervorgegangenen Advokaten, einen wissenschaftlich gebildeten Juristen im engeren Sinn, sondern vielmehr den im deutschen Recht verankerten Fürsprecher. Dieser sogenannte Vorsprecher konnte vom Gerichtsvorsitzenden aus dem Kreis der Gerichtsmitglieder erbeten werden, um die Parteien vor Gericht formal zu unterstützen. Ihm kam die bemerkenswerte Doppelaufgabe der Fürsprache und der Urteilsfindung zu. Mit seiner praktischen Verfahrens-, aber auch Rechtskenntnis wurde er bald zum unentbehrlichen Begleiter der Prozessparteien. Seine Stellung und Aufgaben waren zum Beispiel im Schwabenspiegel geregelt. Die beginnende Neuzeit brachte eine Institutionalisierung der Prozessvertretung und somit die allmähliche Professionalisierung der Rechtsprechung. So fanden sich nun auch frei gewählte und entgeltlich tätige Fürsprecher in freiberuflicher Konkurrenz mit den Prokuratoren, d.h. den eigentlichen Parteivertretern, und den Advokaten, die ihre Klientel bei der Prozessführung unterstützten. Ein inhaltlicher Aufgabenbereich gesellte sich zum formalen. Es kam zu einer funktionalen Annäherung der drei Berufsbilder, die der spätere Rechtsanwalt je nach Kanton auch weiterhin als Fürsprecher oder Advokat in sich vereinigen sollte.

In der Helvetik wurden zwar die Grundlagen für die moderne Rechtspflege gelegt, die spärlichen Ansätze zur Regelung des juristischen Berufsstands, zum Beispiel in der Form eines Fähigkeitsausweises im Kanton Léman, vermochten das Prinzip der freien Berufsausübung jedoch nicht umzustossen. Ab 1803 gestalteten einige deutschschweizerische sowie die süd- und westschweizerischen Kantone die Advokatur grundlegend neu, um sie wegen ihrer Bedeutung für Eigentum und bürgerliche Rechte, Freiheit, Sicherheit und öffentliche Ordnung kontrollierbar zu machen. Der Erwerb einer rechtlichen Bildung, die an einer Rechtsschule, Universität oder in der Praxis als Schreiber oder Richter erworben werden konnte, wurde über Prüfungen und die Vergabe kantonaler Patente sichergestellt. Weitere Voraussetzungen für die Berufsausübung waren moralische Integrität, ein Mindestalter und das Aktivbürgerrecht. In kleineren und ländlichen Kantonen erfolgte die Normierung des Berufs erst zwischen 1890 und 1930.

Liberale und demokratische Vorstellungen von Gewerbefreiheit, bürgerlicher Gleichheit, Freiheit und Allgemeinverständlichkeit des Rechts sowie die Abneigung gegen berufsständische Privilegien und Experten waren dafür verantwortlich, dass der Rechtsanwalt in der Schweiz insgesamt spät als wissenschaftlicher Beruf normiert wurde. Trotzdem war das Bildungsniveau keineswegs tief, denn seit den 1830er Jahren bewirkte der vom Markt und der Rechtsentwicklung ausgehende Qualifikationsdruck, dass die meisten Advokaten Rechtswissenschaften studierten, entweder an den neu gegründeten schweizerischen oder an den deutschen Universitäten.

Ihren Aufstieg in die gesellschaftlichen Eliten im 19. Jahrhundert verdankten die Rechtsanwälte der Kodifikation und Verwissenschaftlichung des Rechts, der Systematisierung der Rechtsprechung, der gesellschaftlichen und politischen Liberalisierung, der Bürokratisierung, dem wirtschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt der von ihnen selbst aus beruflichem Interesse geförderten Verrechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen. In vielen Gebieten wurde "Advokat" zum dominanten Rechtsberuf, fast gleichbedeutend mit "Jurist". Die Aufgabe der Rechtsanwälte im engeren Sinne bestand aus der Verteidigung und Vertretung im Prozess und der Rechtsberatung privater Klienten. Der Anwalt wurde aber auch zu einem eigentlichen Ausgangsberuf. Viele Rechtsanwälte übernahmen nebenamtliche, zuweilen auch vollamtliche, öffentliche Funktionen und Ämter (Richter, Gerichtsschreiber, Rechtsprofessoren, Verwaltungsbeamte, Politiker) oder betätigten sich als Verwaltungsräte, Verbandsfunktionäre oder Publizisten. So festigten die Rechtsanwälte ihre Position als professionelle Vermittler von Interessen und als Universalexperten für Recht, Freiheit und Ordnung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die schweizerischen Rechtsanwälte hatten in der Regel eine offensive Einstellung zum Markt. Selbst im Zuge der berufsständischen Entwicklung konnten sich protektionistische Tendenzen und ein allzu enges Sonderbewusstsein nie stärker entfalten. Die Angehörigen dieses bürgerlichen Eliteberufs rekrutierten sich aus dem Bürgertum und gehobenen Kleinbürgertum, aus den Kreisen von Besitz und Bildung. Frauen wurden erstmals 1898 in Zürich zum Beruf zugelassen, ab 1923 in der ganzen Schweiz.

Obwohl es nie zu einer gesamtschweizerischen Regelung der Advokatur gekommen ist, zeichnete sich ab dem späten 19. Jahrhundert eine gewisse Homogenisierung der kantonalen Ausbildungs-, Berufs- und Verhaltensnormen ab. Über Standesregeln geordnete Kammern und Verbände sollten eine gewisse Selbstkontrolle des Anwaltsstandes sicherstellen, der sich in seinem Selbstverständnis stets in einem Spannungsfeld zwischen der allgemein gültigen Rechtsordnung und den Interessen von Mandat und Anwalt bewegt. Die Zielsetzungen des 1898 gegründeten Schweizerischen Anwaltsverbands (1898 rund 200, 2010 ca. 8400 Mitglieder) haben sich im Verlauf der Zeit kaum verändert. Neben Bestrebungen für eine Verbesserung des Rechts und der Rechtspflege im kantonalen, ab Mitte der 1950er Jahre vermehrt im eidgenössischen Rahmen, standen die Wahrung der Rechte und des Ansehens des Anwaltsstandes, die Förderung der Kollegialität sowie die Pflege internationaler Kontakte im Zentrum der Verbandsarbeit. Aufgrund der Tendenzen zur Verfestigung anderer Berufe und der Spezialisierung in der Anwaltschaft, oft im Rahmen von Bürogemeinschaften, hat die Bedeutung der Rechtsanwälte als bürgerliche Universalexperten insbesondere seit den 1960er Jahren abgenommen.

Quellen und Literatur

  • C. Gorgerat, Le barreau vaudois, 1937
  • H. Siegrist, Advokat, Bürger und Staat, 1996, (mit Bibl.)
  • NZZ, 4.6.1998
  • Schweiz. Anwaltsrecht, hg. von W. Fellmann et al., 1998, 3-53
  • R. Pahud de Mortanges, A. Prêtre, Anwaltsgesch. der Schweiz, 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Hannes Siegrist: "Rechtsanwälte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.12.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009643/2011-12-21/, konsultiert am 29.03.2024.