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Anthropologie

Das Kunstwort Anthropologie («Lehre vom Menschen») bezeichnet drei sehr heterogene Denkrichtungen, zwischen denen allerdings stets Berührungspunkte bestanden und die während des Prozesses ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplinen eng ineinander verflochten waren: 1. die geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die verschiedene Völker untersuchen, deren Lebensformen und Kulturschemata typologisieren und untereinander sowie mit der eigenen Kultur vergleichen, unter Einbezug aller Bereiche von Kultur und Gesellschaft (u.a. Soziologie, Sozialpsychologie, Völkerkunde, Geschichte, Vorgeschichte, Sprachwissenschaft, Archäologie, Ethnologie); 2. die philosophische Anthropologie, welche die Forschungsergebnisse der verschiedenen Einzeldisziplinen aufgreift und reflektiert (Philosophie); 3. die naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Entstehung, Entwicklung und Typendifferenzierung der Menschenart befassen und diese morphologisch und physiologisch mit anderen Tierarten vergleichen (nach deutschem Sprachgebrauch auch biologische Anthropologie, physische Anthropologie oder Humanbiologie, mit den Zweigen Humangenetik, Konstitutionsforschung und Abstammungslehre).

Die heterogenen Ursprünge

Das Manuskript Anthropologie ou Science générale de l'homme von Alexandre César Chavannes aus dem Jahr 1788 (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
Das Manuskript Anthropologie ou Science générale de l'homme von Alexandre César Chavannes aus dem Jahr 1788 (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).

Eine wissenschaftliche Anthropologie entstand ab dem 16. Jahrhundert, zuerst innerhalb der deutschen Schulphilosophie, dann im 17. und 18. Jahrhundert vorangetrieben von Medizinern (Medizingeschichte), die mit Physik, Anatomie und Physiologie die Tätigkeiten aller «Teile» des Menschen erklären wollten (wie z.B. Hermann Friedrich Teichmeyer, der Schwiegervater von Albrecht von Haller, mit seinen Elementa anthropologiae, 1719). Während sich so in Deutschland die physische Anthropologie entwickelte, wurde in Frankreich zunächst ein anderer Zweig der Anthropologie kultiviert, nämlich die praktische Menschenkunde (Moralistik), die dem Schulwissen das Weltwissen gegenüberstellte (z.B. Michel de Montaigne, François de La Rochefoucauld, Jean de La Bruyère). Richtungweisend für die schweizerische Anthropologie der Aufklärung wurde die natürliche Theologie mit ihren Annahmen über den Offenbarungscharakter der menschlichen Natur; von herausragender Bedeutung waren diesbezüglich Alexandre César Chavannes (Anthropologie ou Science générale de l'homme, 1788) und Johann Samuel Ith (Versuch einer Anthropologie, oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen, 1794-1795).

Gegen den Vorrang der Physiologie in der Anthropologie wandte sich Immanuel Kant. Er unterschied die Anthropologie in «physiologischer» und «pragmatischer» Hinsicht und legte in seinen 1798 publizierten Anthropologie-Vorlesungen das Gewicht auf Menschen- und Weltkenntnis, auf Erfahrungswissen durch Beobachtung, Reisen und Lektüre. Obwohl bei Kant die Anthropologie gegenüber der Ethik peripher blieb, erlebte erstere – gerade durch den Primat der Physiologie – ab 1800 einen grossen Aufschwung. Häufig von Ärzten entworfen, wurde sie, verstärkt durch die romantische Naturphilosophie, zur Fundamentalphilosophie und Universalwissenschaft schlechthin. Nach den Schriften von Kant und Johann Gottfried Herder, von Chavannes und Ith erschien eine Unzahl einschlägiger Titel und Zeitschriften. 1859 wurde die Société d'anthropologie de Paris, 1869 die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gegründet. Von Frankreich aus beeinflusste eine bereits 1775 von Pierre Roussel in der Abhandlung Système physique et moral de la femme begründete anthropologische Differenztheorie der Geschlechter (Geschlechterrollen) die nachfolgenden Anthropologien aller Schattierungen. Nach dem allmählichen Zerfall der Anthropologie als allgemeiner Universalwissenschaft blieb eine biologistische weibliche Sonder-Anthropologie in der Gynäkologie erhalten.

Titelblatt und erste Seiten der Vorrede aus Johann Samuel Iths Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. Erster Teil gedruckt bei Emanuel Haller in Bern, 1794 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, L Nat 832/1).
Titelblatt und erste Seiten der Vorrede aus Johann Samuel Iths Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen. Erster Teil gedruckt bei Emanuel Haller in Bern, 1794 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, L Nat 832/1). […]

Von Kant über Karl Marx' Feuerbachkritik bis zu Georg Lukács gibt es eine Tradition geschichtsphilosophischer Anthropologie-Kritik. Neubegründungen der Anthropologie erfolgten deshalb im Zeichen einer Absage an die Geschichtsphilosophie, so im deutschen Sprachraum in den 1920er Jahren durch Max Scheler und Helmuth Plessner. Im französischen Sprachraum waren es zunächst Versuche von Jean-Paul Sartre und anderen, dem historischen Materialismus eine anthropologische Basis zu verleihen. In Verbindung mit der Ethnologie entstand die strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Strauss mit der Präferenz für synchrone Strukturforschung. Mittlerweile gibt es Anthropologien in Verbindung mit diversen Einzelwissenschaften, unter anderem pädagogische Anthropologie (Pädagogik), theologische Anthropologie oder historische Anthropologie. Letztere hat als interdisziplinäre Verknüpfung von Anthropologie und Geschichtswissenschaft zu neuen Fragestellungen, Ansätzen und Erkenntnissen geführt, vor allem in verschiedenen Gebieten der Sozialgeschichte (Lebensformen, Wahrnehmungsmuster, Handlungsweisen usw.). Ab ca. den 1970er Jahren widmete sich die Anthropologie auch vermehrt dem Studium der menschlichen Kultur (Kulturanthropologie, Kulturgeschichte), wobei das Verhältnis zwischen diachronen Verläufen und der «immergleichen Menschennatur» sowie den daraus abgeleiteten Zwängen zu kompensatorischen Kulturleistungen nach wie vor ungeklärt erscheint.

Die philosophische Anthropologie in der Schweiz war verschiedenen Ansätzen verpflichtet. Die Vertreter der von Edmund Husserl begründeten und von Martin Heidegger weiterentwickelten Phänomenologie waren vor allem psychologisch und psychoanalytisch geschulte Philosophen wie Ludwig Binswanger, der Begründer der Daseinsanalyse, Medard Boss, Hans Kunz, Günther Bally und Wilhelm Keller (Psychologie). Eine ontologisch-apriorische Philosophie vertrat Paul Häberlin, während an der Universität Freiburg eine theologisch, vor allem neuthomistisch geprägte Anthropologie, unter anderen von Norbert A. Luyten, gepflegt wurde.

Die biologische Anthropologie

Die biologische bzw. physische Anthropologie ist der naturwissenschaftliche Zweig innerhalb der Disziplin. Sie widmet sich der Evolution, Entwicklung und Vielfalt des Menschen über eine Zeitspanne von mindestens vier Millionen Jahren hinweg und beinhaltet zahlreiche miteinander verknüpfte Unterdisziplinen.

Die Paläoanthropologie beschäftigt sich unter Einbezug von Geologie, Archäologie, Primatologie, Molekularbiologie und Kulturanthropologie mit der Evolution des Menschen. Hierbei werden fossile Formen der Homininen beschrieben und deren Merkmale bewertet. Grundlegende Fragestellungen sind der Zeitpunkt und der Ort des Auftretens neuer Formen sowie deren Abstammung von Vorgängerinnen. Ebenso versucht die Paläoanthropologie, die Verwandtschaftsbeziehungen und Kontakte zwischen pleistozänen Menschenformen (z.B. homo neanderthalensis) und dem anatomisch modernen homo sapiens zu ergründen. Das Studium nichtmenschlicher Primaten bildet dabei einen Referenzrahmen für die Paläoanthropologie. Vergleichende morphologische und biomechanische Studien erlauben es, menschliche und hominine Skelettmerkmale einzuordnen und in ihrer funktionellen Bedeutung zu verstehen, etwa als Anpassungen an das Leben in den Bäumen oder am Boden bzw. an den aufrechten Gang. Labor- und Feldbeobachtungen, besonders von Menschenaffen, liefern Hinweise auf ihre kognitiven Fähigkeiten, die sich möglicherweise auch auf die frühen Homininen übertragen lassen.

Die menschliche Variabilität, geografische Populationen sowie Bevölkerungsbewegungen werden mittels vererbter Merkmale und der ihnen zugrundeliegenden Gene nachvollzogen. In der Forschung des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts stehen molekularbiologische Daten im Fokus, vor allem bestimmte ancient DNA-Sequenzen (aDNA). Auf dieser Grundlage lassen sich geografische Populationen beschreiben; zusammen mit linguistischen und archäologischen Erkenntnissen können so Bevölkerungsbewegungen nachvollzogen und Hinweise auf die Besiedlungsgeschichte der Kontinente gewonnen werden. Da es keine scharfen Grenzen zwischen solchen geografischen Populationen gibt, hält das Konzept von biologischen Rassen wissenschaftlichen Kriterien nicht stand (Rassismus, Körpergeschichte).

Histologischer Schnitt durch die Knochenprobe eines isolierten Oberarmknochens aus der latènezeitlichen Siedlung Basel - Gasfabrik (3.-1. Jahrhundert v. Chr.). Durchlichtaufnahme mit Lambdaplatte, 100fache Vergrösserung (Universität Basel, Integrative prähistorische und naturwissenschaftliche Archäologie Ipna, Aufnahme Cordula Portmann, 2015).
Histologischer Schnitt durch die Knochenprobe eines isolierten Oberarmknochens aus der latènezeitlichen Siedlung Basel - Gasfabrik (3.-1. Jahrhundert v. Chr.). Durchlichtaufnahme mit Lambdaplatte, 100fache Vergrösserung (Universität Basel, Integrative prähistorische und naturwissenschaftliche Archäologie Ipna, Aufnahme Cordula Portmann, 2015). […]

In der prähistorischen und historischen Anthropologie (auch Osteoarchäologie oder Bioarchäologie) werden Skelette und andere menschliche Überreste wie beispielsweise Mumien, Moor- und Salzleichen untersucht, um verschiedene Aspekte früherer Bevölkerungen zu beleuchten. Die sorgfältige Ausgrabung und Dokumentation von Bestattungen erlaubt es, Bestattungsbräuche und ihnen zugrundeliegende Glaubensvorstellungen in unterschiedlichen Epochen zu rekonstruieren. Über das biologische Profil der Verstorbenen (Geschlecht, Sterbealter, Körpergrösse, paläopathologische Befunde) lassen sich demografische, epidemiologische und soziale Phänomene in prähistorischen Gesellschaften erschliessen. Migrationsbewegungen und die Ernährungsweise können mittels der Untersuchung stabiler Isotopenverhältnisse aus Knochen und Zähnen entschlüsselt werden. Der molekularbiologische Nachweis von Krankheitserregern in prähistorischen und historischen menschlichen Überresten hat nicht nur die Möglichkeiten der Paläopathologie erheblich erweitert, sondern liefert zusätzlich Informationen über die Evolution verschiedener Krankheitserreger.

Osteologische und molekularbiologische Methoden sowie bildgebende Verfahren sind ebenso in der forensischen Anthropologie relevant, etwa bei der Identifikation unbekannter Toter (Rechtsmedizin). Auch der Bereich der «Lebendidentifikation» wird von der forensischen Anthropologie betreut. Hierbei geht es beispielsweise um die Untersuchung von Bildmaterial von Überwachungskameras, um die Identität oder Nichtidentität einer Vergleichsperson festzustellen.

Institutionalisierung

In der Schweiz ist die biologische Anthropologie an verschiedenen universitären Standorten und mit verschiedenen Institutsanbindungen (Rechtsmedizin, Biologie, Archäologie) vertreten. 1899 wurde an der Universität Zürich ein Lehrstuhl für physische Anthropologie geschaffen. In seiner Antrittsvorlesung definierte Rudolf Martin die Anthropologie als gesamten Formenkreis der menschlichen Varietäten in räumlicher (Rassenkunde, Genetik) und zeitlicher (Abstammungsgeschichte, Primatologie) Ausdehnung; er siedelte das Fach somit in der Biologie an. Unter ihm wurden standardisierte Methoden und Messinstrumente zur Anthropometrie entwickelt, sein Lehrbuch der Anthropologie (1914) wirkte schulbildend.

Rudolf Martins Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Methoden für Studierende, Ärzte und Forschungsreisende. Umschlag und ausgewählte Seiten aus den Kapiteln «Somatometrische Technik», «Somatologie» und «Kraniologie». Verlag von Gustav Fischer, Jena 1914 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, N 13714).
Rudolf Martins Lehrbuch der Anthropologie in systematischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Methoden für Studierende, Ärzte und Forschungsreisende. Umschlag und ausgewählte Seiten aus den Kapiteln «Somatometrische Technik», «Somatologie» und «Kraniologie». Verlag von Gustav Fischer, Jena 1914 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, N 13714).

In den Veröffentlichungen seines Nachfolgers Otto Schlaginhaufen über die von ihm geleiteten Rekrutenvermessungen wurde der Bezug dieser Anthropologie zur Rassenbiologie und Rassenhygiene explizit und unmissverständlich (Sozialdarwinismus). Schlaginhaufen war massgeblich an der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie (1920) sowie der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozial-Anthropologie und Rassenhygiene (1921) beteiligt. Sein Nachfolger Adolf Hans Schultz gilt als Mitbegründer der Primatologie. Er baute dieses Fach an der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich auf und erweiterte es um andere Forschungsgebiete wie Stammesgeschichte, Bevölkerungsbiologie sowie Wachstum und Genetik des Menschen. 2023 umfasste das Institut für evolutionäre Anthropologie (IEA) in Zürich unter anderen die Forschungsgruppen Evolutionary Cognition, Evolutionary Genetics und Human Evolutionary Ecology sowie das Museum der Anthropologie. Forschung und Lehre zur Paläogenetik, Humanökologie, evolutionären Morphologie, Anthropometrie und historischen Epidemiologie sowie zur Paläopathologie werden an der Universität Zürich vom Institut für evolutionäre Medizin (IEM) abgedeckt. Dem IEM angegliedert ist die Galler'sche Pathologiesammlung, eine historische Referenzserie für Paläopathologie mit ungefähr 1700 Sammlungsstücken, die sich zum Teil seit 1992 als Dauerleihgabe im Naturhistorischen Museum in Basel befindet.

Illustrationen aus Otto Schlaginhaufens Aufsatz Das neue Heim des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich. Separatdruck aus dem Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene, Bd. 12, Heft 1, 1936 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, N 40480/11).
Illustrationen aus Otto Schlaginhaufens Aufsatz Das neue Heim des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich. Separatdruck aus dem Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene, Bd. 12, Heft 1, 1936 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, N 40480/11). […]

An der Universität Basel wird Anthropologie seit 2003 im Rahmen der Integrativen prähistorischen und naturwissenschaftlichen Archäologie (Ipna) gelehrt. Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss von geistes- und naturwissenschaftlichen Forschungsbereichen und Lehrangeboten innerhalb der Archäologie, deren Ziel es ist, fachübergreifend die Vergangenheit der Menschen von der Steinzeit bis heute zu erforschen. Die Anthropologie ist hier, zusammen mit den Disziplinen Archäobotanik, Archäozoologie, Archäogenetik und Isotopen, ein Teilbereich der Archäobiologie.

An der Universität Bern wurde ab 1974 durch Susi Ulrich-Bochsler eine Arbeitsgruppe für Anthropologie geschaffen, die zunächst am Institut für Rechtsmedizin (IRM) und ab 1991 in der Medizingeschichte angesiedelt war. 2010 wurde die Anthropologie als Abteilung wieder dem IRM angegliedert. Mumien, Skelette und Knochenfragmente werden vor dem Hintergrund rechtsmedizinischer und kulturgeschichtlicher Fragen untersucht. Im Vordergrund der Forschung stehen dabei Fragestellungen zur Identifizierung von unbekannten Toten und Ermittlung der Todesursache im forensischen Kontext. Im archäologischen Umfeld werden wissenschaftliche Fragestellungen zur Bevölkerungszusammensetzung, Krankheitsbelastung sowie Ernährung, sozialen Stratifizierung und Herkunft von Populationen bearbeitet (mittels anthropologisch-morphologischer und histologischer Diagnostik, Massenspektrometrie von stabilen Isotopenverhältnissen, aDNA-Analysen und bildgebender Verfahren).

Skelett aus der Sammlung Simon, 2014 aufgenommen (Université de Genève, Commission des collections anthropologiques, inv. LAU_21).
Skelett aus der Sammlung Simon, 2014 aufgenommen (Université de Genève, Commission des collections anthropologiques, inv. LAU_21). […]

In der französischsprachigen Schweiz war die biologische Anthropologie schon früh eng mit der Prähistorie und Ethnografie verbunden. Eugène Pittard gründete 1901 in Genf das Musée d'ethnographie und erhielt 1916 eine Professur an der dortigen Universität. 1939 wurde im Museum ein Laboratoire d'anthropologie eingerichtet, aus dem das Département d'anthropologie hervorging. Pittards Nachfolger, Marc-Rodolphe Sauter, legte zusätzlich Gewicht auf die Forschungsgebiete Populationsbiologie und Prähistorie und regte weiterführende populationsgenetische Forschungen an. Das Département d'anthropologie wurde 2011 aufgelöst; in den 2020er Jahren war die Anthropologie in der Unité d'anthropologie du Département de génétique et évolution und am Laboratoire d'archéologie préhistorique et anthropologie des Département F.-A. Forel des sciences de l'environnement et de l'eau vertreten. Letzteres steht in der Tradition des ehemaligen Département d'anthropologie und befasst sich mit Mensch-Umwelt-Interaktionen seit dem Neolithikum. Die osteoarchäologische Sammlung beinhaltet rund 13'000 Skelette aus Genf, dem Wallis, der Waadt und überseeischen Gebieten wie z.B. dem Sudan sowie eine Referenzsammlung rezenter Waadtländer Skelette (Sammlung Simon) mit knapp 500 Individuen. Das Département de génétique et évolution umfasst die zwei Abteilungen Laboratoire d'anthropologie, génétique et peuplements (AGP) und Laboratoire d’archéologie et peuplement de l'Afrique (APA). Das AGP-Labor forscht zur Vielfalt und biologischen Evolution der menschlichen Populationen mit dem Hauptziel, die Besiedlungsgeschichte der Erde vom Ursprung des homo sapiens an zu rekonstruieren. Es nutzt hierfür biostatistische und bioinformatische Analysen von molekularen Daten für verschiedene Regionen des Genoms und verknüpft sie mit Informationen aus prähistorischer Archäologie, Paläoanthropologie, historischer Linguistik und Epidemiologie. Das APA-Labor forscht über die menschliche Besiedlung in Afrika von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart und ihre Beziehung zu Klima- und Umweltschwankungen (Klima). Diese Untersuchungen umfassen sowohl archäologische und historische Ansätze als auch Ethnoarchäologie, Ethnologie und Ethnobotanik. Die forensische Anthropologie wird in der Westschweiz vom Centre universitaire romand de médecine légale an den Standorten Lausanne und Genf abgedeckt.

Die Interkantonale Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie (IAG) ist ein Zusammenschluss von derzeit sechs Kantonen (Graubünden, St. Gallen, Schaffhausen, Aargau, Basel-Land, Freiburg) zur Förderung anthropologischer Untersuchungen an Skeletten, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden. Sie schafft Synergien bei der Lagerung und Verwaltung. Die Sammlung der IAG konserviert vor allem im Raum Basel ca. 40'000 Skelette aus dem Zeitraum von 5000 v. Chr. bis ins 19. Jahrhundert.

Die Schweizerische Gesellschaft für Anthropologie (SGA) wurde 1920 als Schweizerische Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie gegründet und gab ab 1924/1925 das Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie heraus, bis sich die Ethnologen 1971 in eine eigene Gesellschaft abspalteten. Das Publikationsorgan fusionierte im gleichen Jahr mit den Archives suisses d’anthropologie générale, die von 1974 bis 1983 das Publikationsorgan der SGA waren. 1995 wurde die Publikationstätigkeit in Form des bis heute bestehenden Bulletins der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie wieder aufgenommen. Innerhalb der Gesellschaft entstand 1982 die Arbeitsgemeinschaft für Historische Anthropologie der Schweiz (Aghas). Nach dem Tod des Initiators Roland Menk wurde die ursprünglich projektbezogene Arbeitsgruppe 1986 konzeptuell umdefiniert und unter Beibehaltung des Namens mit dem Hauptzweck neu gegründet, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. Nachdem sie sich als obsolet erwiesen hatte, löste sich die Aghas 2019 auf.

Quellen und Literatur

  • Mühlmann, Wilhelm Emil: Geschichte der Anthropologie, 1948.
  • Marquard, Odo: «Zur Geschichte des philosophischen Begriffs "Anthropologie" seit dem Ende des 18. Jahrhunderts», in: Böckenförde, Wolfgang et al. (Hg.): Collegium philosophicum. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, 1965, S. 209-239.
  • Hartmann, Fritz: Ärztliche Anthropologie. Das Problem des Menschen in der Medizin der Neuzeit, 1973.
  • Lepenies, Wolf: Soziologische Anthropologie. Materialien, 1971 (19772).
  • Sauter, Marc-Rodolphe: «Les 60 ans de la Société suisse d’anthropologie (et d’ethnologie)», in: Archives suisses d’anthropologie générale, 45/1, 1981, S. 1-7.
  • Moser, Walter: Geschichte der interkantonalen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung anthropologischer Funde (IAG), 1983.
  • Schmutz, Hans-Konrad: «Die Gründung des Zürcher Lehrstuhls für Anthropologie», in: Gesnerus, 40, 1983, S. 167-173.
  • Schulte-Tenckhoff, Isabelle: La vue portée au loin. Une histoire de la pensée anthropologique, 1985.
  • Bay, Roland: «Historische Entwicklung der Anthropologie in Basel», in: Anthropologischer Anzeiger, 44, 1986, S. 299-303.
  • Gloor, Pierre André: «Anthropologie en Suisse romande. Une esquisse historique», in: Anthropologischer Anzeiger, 44, 1986, S. 305-313.
  • Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850, 1991 (19963).
  • Schnyder-Burghartz, Albert: Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive – Bretzwil und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, 1992, v.a. S. 15-24.
  • Historische Anthropologie, 1993-.
  • Dülmen, Richard van: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, 2000 (20012).
  • Rühli, Frank Jakobus; Hotz, Gerhard; Böni, Thomas: «Brief communication. The Galler Collection. A little-known historic Swiss bone pathology reference series», in: American Journal of Biological Anthropology, 121/1, 2003, S. 15-18.
  • Lösch, Sandra: «Forensische Anthropologie», in: Kriminalistik – Schweiz, 2015/3, S. 193-198.
  • Indra, Lara; Lösch, Sandra: «Forensic anthropology casework from Switzerland (Bern). Taphonomic implications for the future, in: Forensic Science International. Reports, 2021/4 (100222).
Weblinks

Zitiervorschlag

Claudia Honegger ; Claudia Honegger; Christine Cooper; Sandra Lösch: "Anthropologie", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.10.2023. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008252/2023-10-10/, konsultiert am 28.03.2024.